Eine sonderbare Geschichte ereignete sich im November des Jahres 397 im französischen Dorf Candes an der Loire. Die Leiche eines Mannes wurde gestohlen. Dunkle Gestalten mit Kapuze brachen nachts in das Sterbehaus ein, schafften den Leichnam zum Fenster, ließen ihn hinunter, schleppten den Körper zum Fluss und ruderten ihn in einem Kahn 50 Kilometer bis in die Stadt Tours. Der entwendete Tote war der Bischof Martin von Tours, heute bekannt als der Heilige Martin.
Der Geistliche war im Alter von 81 Jahren am 8. November im Kloster in Candes verstorben, wo er sich gerade zu einer dienstlichen Visite aufhielt. Die Mönche von Poitiers und Tours stritten sich nach seinem Tod sofort um den Leichnam. Die Mönche aus Tours schufen mit dem nächtlichen Coup kurzerhand Tatsachen. In Deutschland müssten sie heute nach §168 des Strafegesetzbuchs wegen Störung der Totenruhe mit drei Jahren Gefängnis rechnen. Im Jahr 397 konnten sie ihren ehemaligen Vorgesetzten ohne strafrechtliche Verfolgung und unter großer Anteilnahme der Bevölkerung bestatten. Die Beerdigung fand am 11. November statt, der heute als Martinstag gefeiert wird.
Während der Überführung des toten Bischofs auf dem Wasser, soll nun ein Wunder passiert sein: Es wurde plötzlich frühlingshaft warm, die Natur ergrünte und die Obstbäume fingen an zu blühen. Wie der Deutsche Wetterdienst (DWD) in seinem Newsletter „Thema des Tages“ vom 5. November 2018 schreibt, ist eine Wärmeperiode mit überdurchschnittlichen Temperaturen in der ersten Novemberdekade jedoch nicht außergewöhnlich und schon gleich kein Wunder. Es handelt sich vielmehr um ein Wetterphänomen, das oft zu beobachten und sogar in Bauernregeln beschrieben ist. In extremen Fällen kann es mit hohen Temperaturen und vielen Sonnenstunden zu einer Art Sommerausbruch führen. Diese warmen Tagen kurz vor der dunklen Winterzeit werden mit Bezug auf die Martinslegende im deutschsprachigen Raum als „Martini-Sommer“ oder „Martinssommer“ bezeichnet.
Ehrlich gesagt, hatte ich den Ausdruck noch nie gehört bis zur Lektüre des DWD-Newsletters. Aber mit rund 30 Grad in der Sonne auf meinem Südbalkon fand ich ihn sehr zutreffend. Nach einem sehr ruhigen Oktober (siehe Beitrag Balkonrundgang im Herbst) ging es im Herbstsommer diese Woche recht hoch her auf dem Wilden Meter. Ein Bilder-Bericht.
Andrang beim Pracht-Herbstkrokus
Die Herbstkrokusse duften in der Sonne so stark, dass ich mich selbst gern reinsetzen würde. Die, die hineinpassten, haben es getan. Im Titelbild oben und im folgenden Video sieht man eine prächtige dicke Erdhummel-Jungkönigin, die wie im Rausch in eine Blüte nach der anderen tauchte. Einen kurzen Augenblick konnte ich sogar als Video festhalten.
Der Hummelkönigin folgten weitere Martini-Sommerurlauber.
Die Fliegen kamen zum Snacken und zum Sonnen.
Im nächsten Bild findet man beim genauen Hinsehen eine sehr viel kleinere zweiflügelige Verwandte.
Die Honigbiene, unser Oktober-Stammgast, war recht lange da. Sie kroch durch die verwelkten Blätter und fummelte sich schließlich in die Blüte, bis sie fast vollständig darin verschwunden war. Wahrscheinlich auch auf der Suche nach dem süßen Nektar. Ich konnte sie nicht Pollen sammeln sehen.
Sogar die Blattläuse trieben sich sonderbarerweise im Krokus rum und saugten nicht, wie es sich für eine ordentliche Blattlaus gehört Pflanzensäfte aus grünen Stängeln und Blättern. Ich konnte leider über Internetrecherche nicht herausfinden, ob sie auch Pollen fressen. Falls jemand einen Blattlaus-Spezialisten kennt, möge er mich bitte informieren.
„Sex on the Nisthilfe“
Dann verlagerte sich das Geschehen eine Etage höher auf das Meisenhäuschen und eine Nisthilfe. Ein ziemlich große Wespe sauste an meinem Kopf vorbei und landete auf einer Nisthilfe. Eine etwas kleinere kam direkt hinterher und landete auf dem größeren Tier. Zuerst dachte ich, eine Hornisse, die von einer saufrechen Wespe geboxt wird. Aber – es war Liebe. Die Temperaturen brachten offensichtlich die Wespenhormone noch einmal richtig ins Wallen. Es kam zum Äußersten. Rund acht Minuten dauerte die Paarung der Jungkönigin der Deutschen Wespe mit dem Männchen. Wenn das der Heilige Martin wüsste! Im Gedenken an die Cocktail-Bars meiner Studententage taufte ich den Drink „Sex on the Beach“ augenblicklich um in „Sex on the Nisthilfe“.
Das Wespen-Männchen wird bald sterben. Mission erfüllt. Die begattete Jungkönigin wird sich verkriechen, überwintern und nächstes Jahr ein neues Volk gründen.
Begattete Königinnen der Feldwespen überwintern fast jedes Jahr zusammen in einer kleineren Gruppe im Meisenhäuschen auf dem Wilden Meter, wo ihnen den ganzen Winter über unsere Blau- und Kohlmeisen nach dem Leben trachten.
Zwei weitere Wespenmännen, die nicht zum Zuge kamen, übernachteten auch im Meisenhäuschen. Am nächsten Morgen kamen sie heraus und wärmten sich in der Morgensonne auf dem Holzdeck.
Derweil reparierte eine Sektorspinne (Zygiella x-notata) im Morgenlicht ihr Netz, um den restlichen Tag wieder in ihrem Schlupfwinkel zu sitzen und auf Beutetiere zu warten. Ihren Namen verdankt die Spinne eigentlich einer Sache, die sie weglässt, nämlich einem Sektor im Radnetz. Eigentlich müsste sie Sektor-Weglass-Spinne heißen! Statt des Netzsektors läuft hier von der Mitte des Netzes aus ein Signalfaden bis zu ihrem Schlupfwinkel. Dort sitzt die hungrige Zygi und hofft, dass der mal wackelt und Mittagessen eingetroffen ist. Auf der Wikipedia-Seite, die ich unten bei den Links angegeben habe, ist eine sehr anschauliche Zeichnung des Netzes zu sehen.
Die Sektorspinnen sind im Spätherbst noch häufig anzutreffen, viele Weibchen überleben auch bis in den Winter hinein, überleben die kalte Jahreszeit aber nicht. Es überdauern nur die Eier in einem gesponnenen Kokon. Im Frühjahr schlüpfen dann die Spinnenkinder.
Mainacht im November
Und jetzt kommt doch noch einmal der Heilige Martin ins Spiel. Das Martini-Sommer-Wunder. In den herbstlichen Balkonkästen begann es auf einmal neu zu blühen. Ich habe keine Obstbäume, ich hoffe, das Wunder gilt trotzdem.
Diese Pflanze wollte ich eigentlich erst im nächsten Jahr vorstellen. Ein Neuzugang. Ich habe den Garten-Silberwurz (Dryas x suendermannii) mit seinen hübschen fedrigen Samenständen gekauft und eingepflanzt und wollte eigentlich frühestens im Frühjahr wieder nach ihm schauen. Doch die Blume, die eigentlich von Mai bis Juni blüht, blieb vom Wunder im November nicht ausgespart.
Ein Martini-Blütenwunder kann man ebenfalls bei der Gewöhnlichen Ochsenzunge (Anchusa officinalis) beobachten. Im September endet eigentlich die Blühzeit.
Ich bin übrigens schon zweimal durch Candes-Saint-Martin, wie der Ort Candes heute heißt, hindurch gefahren. Er liegt auf dem Loire-Radweg auf der Etappe zwischen Tours und Saumur.
Bei der Radtour habe ich das erste Mal davon gehört, dass der verstorbene Martin nachts durch ein Fenster entführt wurde. Die Details habe ich bedauerlicherweise nicht gefunden. Wie viele Mönche waren daran beteiligt? Wie hoch lag das Zimmer, aus der man die Leiche hinunterlassen musste? Wie haben sie das wohl gemacht, mit Stricken oder haben sie den Körper einfach fallen lassen? Was haben sie dabei geredet? Vor 1600 Jahren war die Dokumentation dieser Details für die Nachwelt wahrscheinlich gar nicht bedacht worden. So bleibt uns nur die Phantasie und ein Anlass, allen Männern, mit dem schönen Namen Martin, übermorgen zum Namenstag zu gratulieren.
Quellen und weiterführende Informationen
Zum Heiligen Martin und Martini-Sommer:
Deutscher Wetterdienst – Thema des Tages vom 5.11.2018: Verfrühter „Martinssommer“?
Wikipedia-Eintrag: Martini-Sommer
Strafgesetzbuch §168: Störung der Totenruhe
Zu Wespen:
Witt, Rolf ( 2009, 2. Auflage): Wespen. Vademecum Verlag
www.aktion-wespenschutz.de: Absterbephase der Wespen
Zur Sektorspinne:
Wiki der Arachnologischen Gesellschaft
Wikipedia-Eintrag: Sektorspinne
Zu Schwebfliegen:
Zu Nektarien:
[…] Hoher Besuch Die sonnenbeschienene südlich ausgerichtete Hauswand auf dem Wilden Meter heizt sich schnell auf und ist das ganze Jahr über sehr beliebt bei allen Insekten, um Wärme zu tanken. Im zeitigen Frühjahr besuchen die Sonnenbank häufig imposante Jungköniginnen von Erdhummeln und Steinhummeln, die nach der Winterruhe aktiv werden. Gestern war eine dicke Erdhummel da, um sich die Sonne auf den Pelz scheinen zu lassen. Vielleicht ist es ja die Dame, die sich im November in den Herbstkrokussen gestärkt hat (siehe Beitrag Martini-Sommer). […]
Super witzig und mit ganz viel Charme geschrieben! Besonders die Geschichte zu den Deutschen Wespen hast du toll verpackt, sie gefällt mir sehr. Ich bin gespannt und freue mich schon auf viele weitere interessante Beiträge auf deinem Blog!
Hallo Katharina, ich lese gerne über deine Balkonerlebnisse, immer interessant und nett geschrieben, aber diesmal hast du dich selbst übertroffen. Es gefällt mir!