Am 24. April hing im Fliegennetz meines Speicherfensters im fünften Stock ein kleines weißes Ding. Auf den ersten Blick dachte ich zuerst an ein Gelege von Insekten oder Spinnen und untersuchte die weißen Krümel deshalb näher. Aber es war Kunststoff. Einige Zeit später fand ich die Erklärung dafür. Es war der erste Hinweis auf ein Münchner Buntspecht-Paar, das gerade dabei war, direkt neben unserem Speicherfenster eine Familie zu gründen. Was wir nicht ahnten: Der Nachwuchs sollte uns noch große Sorgen bereiten.
Spechte bauen ihre Bruthöhlen normalerweise in morsche Bäume oder in weiches Holz. Doch der hohle Klang von Hauswänden mit sogenannten Wärmedämmverbundsystemen, verschiedene Dämm- und Schutzschichten mit Dämmmaterial, klingt für einen Buntspecht ebenfalls wie ein morscher Baum. Das Tolle für den Spechtmann ist zudem das Erfolgserlebnis: Anstatt zwei bis drei Wochen braucht er nur ein paar Tage, fertig ist die Höhle. Dann kann er sich gleich an die nächste machen, denn Spechtdamen möchten gerne mehrere Immobilien zur Auswahl vorgeführt bekommen.
In der LBV-Broschüre „Wer klopft denn da? Spechte als Fassadenhacker“ wird erklärt, dass Spechte die geeigneten Fassaden bei der Futtersuche entdecken. Sie suchen nicht nur Bäume, sondern auch Wände mit dem Schnabel nach Insekten ab. Klingt es schön hohl, denkt der Specht, ein lohnendes Objekt zur Nahrungssuche oder zum Bau einer Schlaf- oder Bruthöhle gefunden zu haben. Das motiviert ihn, weiter zu hacken.
Nach dem Fund der weißen Kunststoff-Kügelchen war ein Klopfen an der Hauswand mehrere Tage im Speicher und auch in der Wohnung deutlich zu hören. Klar, der Fassadenhacker war am Werk! Ich machte mich auf die Suche und sah den Spechtmann im fünften Stock auf der Höhe unseres Speicherfensters fleißig bei der Arbeit.
Mein Mann und ich beobachteten die Höhle, wenn wir das Haus verließen. Nach einiger Zeit konnte man die hungrigen Jungen unten von der Straße aus betteln hören und die Spechteltern zur Fütterung aus- und anfliegen sehen. Offensichtlich hatte sich das Paar für diese Höhle als Bruthöhle entschieden. Vier bis sieben Eier legen Buntspechte. Sie werden elf bis dreizehn Tage bebrütet, anschließend werden die jungen Spechte etwa drei bis vier Wochen lang gefüttert, bis sie ausfliegen. Bis in die letzten Tage der Nestlingszeit rufen die Buntspechtjungen fast pausenlos.
Das obige Foto vom fütternden Specht habe ich am 1. Juni gemacht. Hier sollte die Geschichte vom Fassadenhacker eigentlich zu Ende sein, dann ging sie aber erst richtig los.
Am Sonntagvormittag lag ich lesend im Bett. Es war noch ganz ruhig im Viertel. Plötzlich flog ein Vogel um die Ecke auf den Balkon, platschte an die Hauswand und rutschte senkrecht hinunter auf den Boden. Ein junger Buntspecht, ein bisschen hilflos und erschrocken. Ich wusste nicht, ob er verletzt war und wollte ihn erst einmal beobachten. Er war nicht gegen die Scheibe geflogen, sondern einfach in die Ecke des Balkons gekracht, so als ob er von seiner Route abgekommen wäre, weil Kurs halten nun einmal schwierig ist.
Als ich mich ein kleines bisschen auf ihn zubewegte, flatterte er plötzlich los, krabbelte durch den Spalt unter der Balkonbrüstung nach draußen und segelte über die Straße auf die nächste Wiese. Im selben Moment startete eine Krähe vom Dach des Nachbarhauses und flog auch auf die Wiese hinunter – sie musste den kleinen Specht schon seit dem Crash auf dem Balkon im Visier haben. Der große schwarze Vogel maschierte auf den Bruchpiloten zu und hackte auf ihn ein. Der junge Specht schrie laut vor Angst, zweimal. Die Schreie hallten im Viertel wieder. Dann war es wieder sonntäglich still. Die Krähe ließ ab und flog weg – ohne Specht.
Ich kam mir vor wie in einem Gruselfilm. Mord am Sonntagvormittag. Da ich noch im Schlafanzug war, schickte ich meinen Mann nach unten, um nach dem kleinen Kerl zu sehen. War er tot? Verletzt? Verblutet?
Entwarnung: Der kleine Specht lebte und schien unverletzt. Vielleicht war er doch nicht so schwach, wie es die Krähe eingeschätzt hatte und er konnte sich nicht nur mit Schreien, sondern auch mit Schnabelhieben zur Wehr setzen.
Das Gefressenwerden in den ersten Lebenstagen ist ein häufiges Schicksal von jungen Spechten, las ich in der Fachliteratur: „Während die Spechtjungen in der Nestlingszeit wenig gefährdet sind und selten Verluste erleiden, ist die Zeit nach dem Ausfliegen für sie riskant. Man findet mitunter schon Rupfungen in der näheren Umgebung des Höhlenbaumes.“ (Blume/Tiefenbach 1997) Jungspechte werden beispielsweise Opfer von Marder und Sperber.
Natürlich wissen wir, dass man bei wilden Tieren den Dingen am besten seinen natürlichen Lauf lässt. Aber nachdem wir die Spechtfamilie nun schon einige Wochen beobachteten und unser Balkon auch noch der Unfallort war, hatten wir eine Beziehung zu dem Tier und naja, auch ein weiches Herz. Wir sammelten den kleinen Kämpfer erst mal auf, setzten ihn in einen Korb und stellten ihn genau unter dem Nest ab. Beim NABU hatten wir die Information gefunden, dass Buntspechte ihren Nachwuchs nach dem Ausfliegen noch acht bis zehn Tage füttern. Erst dann löst sich die Spechtfamilie auf.
Wir warteten mit Kaffee aus der Thermoskanne zwei Stunden in der Nähe des Korbs, in der Hoffnung, dass die Eltern kommen und sich um ihr Kind kümmern würden. Niemand kam. Wir nahmen unseren Bruchpiloten aus dem Korb und setzten ihn an einen Baum direkt unter dem Nest. Weder Papa-Specht noch Mama-Specht kamen vorbei. Und – nach den markerschütternden Schreien auf der Wiese sagte unser kleine Specht leider auch nichts mehr. Keinen einzigen Pieps. Er war einfach stumm. Die Eltern konnten ihn also auch nicht hören.
Mittags gaben wir auf. Wenn unser Findelkind nicht wieder von den Eltern versorgt würde, sollte es in kompetente Hände von Pflegeeltern. Im Internet fanden wir die Adresse der Tierrettung in der Herzogstraße in Schwabing. Um 17:00 Uhr sollten wir vorbeikommen und den kleinen Specht abgeben. Wir waren glücklich, eine Organisation mit „Notaufnahme“ am Sonntag gefunden zu haben.
Unser Schützling wurde von einer Tierärztin in Empfang genommen und untersucht. Er würde heute noch zu einer Dame kommen, die auf das Aufpäppeln von jungen Spechten spezialisiert sei. So nahm der aufregende Tag ein gutes Ende. Denn junge Spechte, die die erste kritische Zeit außerhalb des Nests überstehen, haben auch gute Chancen, das Erwachsenenalter zu erreichen.
Am nächsten Morgen gegen halb acht rief ein Buntspecht von der Antenne des Hauses gegenüber. Wir konnten nicht sehen, ob es ein Altvogel oder ein junger Specht war. Aber die Spechtfamilie hielt sich offensichtlich noch in der Nähe auf. In einigen Tagen, wenn die Jungen sich selbst ernähren können, löst sich die Familie auf. Geschwister können noch einige Zeit zusammen in der Nähe des Nests umherstreifen. Dann suchen sie sich ein eigenes Revier in nicht allzugroßer Entfernung.
Quellen für diesen Artikel und weitere Informationen:
Broschüre: Wer klopft denn da? LBV-München
LBV-München: Spechte als Fassadenhacker
Specht-Steckbrief beim LBV-München
Tierrettung München
Wildvogelhilfe: Startseite
Wildvogelhilfe: Informationen zum Buntspecht
Wildvogelhilfe: Artgerechtes Futter für Spechte
SZ: Specht im Garten. Ich oder er. Von Gerhard Matzig
„Die Buntspechte – Gattung Picoides“ von Dieter Blume und Jens Tiefenbach (Auflage 4: 1997), VerlagsKG Wolf
Nach den Erlebnissen hätte mich das Schicksal des jungen Spechts auch nicht mehr losgelassen. Schön, daß die Geschichte ein so gutes Ende genommen hat 🙂 LG Almuth
Oh, welch abenteuerreicher Bericht! Danke, dass Ihr dem Jungspecht geholfen habt❣️
Ich wünsche ihm und seiner Familie, dass das Glück weiter auf seiner und ihrer Seite bleibt!
Liebe Grüße
Marie
wie schön, daß alles gut ausgegangen ist!
Ein wahrlich aufregendes Naturdrama. Ich habe beim Lesen mitgefiebert und bin über das Happyend sehr froh. Schönes Wochenende.
Das ist auf jeden Fall spannender und dramatischer als jeder Krimi….Schade, dass wir nicht weiter verfolgen können, was aus ihm werden wird. Ich wünsche ihm ein wunderschönes und noch langes Specht-Leben!
Liebe Katharina,
das ist aber eine abenteuerliche Geschichte. Danke. Danke auch, dass Ihr den kleinen Specht gerettet habt.
Liebe Grüße Waltraud
Herrlich! Ich kann mir die Sorgen so gut vorstellen. Wir haben am Weihnachtsabend eine Amsel, die gegen das Fenster geflogen war, in die nächste tierärztliche Bereitschaft gefahren. Nachdem die Ärztin mit dem Zustand der Amsel zufrieden war, durften wir sie wieder in ihre vertraute Umgebung zurück mitnehmen. Nach 2 Stunden in einem gepolsterten Karton war sie dann fort.
Ein gutes weihnachtliches Ende 😊
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