Ich befürchtete Schlimmes, als ich nach vierwöchiger Abwesenheit Ende August in die Wohnung zurück kam. Und die Katastrophe war leider auch eingetreten. Die Wasservorräte in der Wassertonne für die Tröpfchenbewässerungsanlage hatten nicht gereicht. Die Pumpe lief leer und fast alle Pflanzen auf dem größeren meiner beiden Balkone hatten braune Blätter und Stängel. Dürre um mich herum.
Abwesenheit im heißen August ist immer eine Herausforderung. Bisher hat es aber mit der Tröpfchenbewässerungsanlage und anderen Bewässerungshelferchen ganz gut geklappt (siehe Artikel Urlaubsbewässerung). Dieses Mal musste ich zwei Wochen länger als geplant bei meiner Mutter in der Oberpfalz bleiben. Irgendwann war das Wasser in der Tonne aus und die Pflanzen standen viele Tage auf dem Südbalkon bei über 30 Grad in sengender Hitze. Sie vertrockneten.
Rundgang, Bestandsaufnahme. Die Pflanzen auf dem kleinen Balkon sahen gut aus, denn die Tonne versorgt auf dem halb so großen Balkon nur halb so viele Tropfer und für die hatte das Wasser gerade so gereicht. Aber der große Balkon war ein Trauerspiel – ich kam mir vor wie auf dem Mars, auf der Suche nach Leben. Bis auf die ganz großen Kübel mit viel Erdvolumen für die Alpenwaldreben (Clematis alpina) und einige Blumenkästen mit Halbschatten-Stauden wie beispielsweise die Große Sternmiere (Stellaria holostea), die ich vorsorglich auf den Boden in den Schatten gestellt hatte: nur braunes, knistertrockenes Laub. Ich stellte mir die tagelang dürstenden Blümchen vor und hatte Schuldgefühle. Mein erster Reflex war ein Großeinkauf in meiner Bio-Staudengärtnerei. Gleich am nächsten Tag wollte ich fahren und die braunen Pflanzen durch grüne ersetzen, um diese Katastrophe möglichst schnell wieder vergessen zu machen. Dann fiel mir aber das Buch von Reinhard Witt über Naturgärten im Klimawandel ein (Info zum Buch siehe unten).
Witts Wildblumendach
Am Anfang des Buchs porträtiert er sein privates begrüntes Dach. Nach 13 Jahren „nächtlicher Gießmarathons“ hatte er beschlossen, die Wildblumen auf dem Dach nicht mehr zu wässern und somit wie die Wildblumen in seinem Garten zu behandeln. Ein Naturgarten-Experiment im Klimawandel. In Hitzesommern vertrocknete das Gründach mangels Regen immer wieder komplett. Aus einer bunten Blumenwiese wurde braunes Heu. Ein trostloser Anblick. Aber als es dann regnete, geschah ein Wunder. Die einheimischen Wildpflanzen trieben wieder aus, das braune Dürredach ergrünte, die Pflanzen wuchsen und blühten wieder, „Millionen Keimlinge“ erschienen.
Zehn Jahre lang, von 2010 bis 2019, hat er die Entwicklung der Vegetation auf seinem Gründach, das in dem Zeitraum noch dreimal verdorrte, dokumentiert und analysiert. Das Wildpflanzendach sah jedes Jahr anders aus, die Artenzusammensetzung änderte sich, weil bestimmte Arten von den jeweiligen klimatischen Bedingungen des Jahres profitierten, – aber – und das war für mich als Balkongärtnerin die entscheidende Information: viele seiner Pflanzen haben sich wieder regeneriert.
Sein Fazit: „Heimische Wildpflanzen besitzen eine hohe Regnerationskraft. Sie halten ziemlich viel aus und können sich oft aus dem Wurzelstock regenerieren. Falls die Regeneration aus dem Wurzelstock nicht funktioniert, belebt sich das Ökosystem aus seiner Samenbank.“
Hoffnung auf das Wittsche Ergrünungswunder
Auf begrünten Dächern wachsen die Pflanzen aus statischen Gründen in wenig Substrat. Es hat in der Regel eine Tiefe von fünf bis 20 Zentimetern, eine ähnlich limitierte Situation wie im Kasten oder Topf. Wenn es beim Witt wieder grün wird, hat der Wilde Meter vielleicht auch eine Chance, dachte ich mir.
Zunächst wollte ich wie Reinhard Witt den Kollaps dokumentieren und dann die weitere Entwicklung begleiten. Ich brachte es aber einfach nicht übers Herz, die Pflanzen in dem desolaten Zustand zu fotografieren. In einem Anfall von Aktionismus schnippelte ich alle Pflanzen zurück, damit die braune Laubmasse farblich nicht mehr ganz so dominierte. Aber das Resultat war farblich ähnlich: braune Erde mit braunen Stängeln. Ehrlich gesagt, schon etwas deprimierend. Da ich im September aber einen Segelkurs am Starnberger See machen wollte und ein paar Wochen nicht viel zu Hause sein würde, würde ich mir das Elend nicht dauernd ansehen müssen, so meine Überlegung. Ich beschloss also, mich in Geduld zu üben und erst einmal zu beobachten.
Anders als Reinhard Witt wartete ich nicht auf Regen, sondern versorgte die Pflanzgefäße wie sonst auch mit Gießkannen und Tröpfelanlage. Ich wollte ja nicht das Zehnjahresexperiment von Reinhard auf dem Balkon nachahmen, obwohl es tatsächlich sehr spannend wäre. Aber als Balkongärtnerin in der Stadt habe ich andere Kriterien: Es soll für Insekten blühen, es soll Grün sein fürs menschliche Gemüt und in heißen Sommern den Balkon als Vorzimmer der Wohnung kühlen. Die Vorstellung jedoch, die Regenerationskraft der Natur zu erleben, fand ich motivierend.
Ich war skeptisch und ehrlich gesagt, nicht wirklich zuversichtlich angesichts eines Wüstenbalkons und Geduld gehört sowieso nicht zu meinen Stärken. Aber das Warten wurde belohnt, das Wittsche Ergrünungswunder ereignete sich auch bei mir. Etwa 80 Prozent der Wildstauden haben wieder aus dem Wurzelstock ausgetrieben – beispielsweise der Wilde Majoran (Origanum vulgare) im Titelbild – und manche wie beispielsweise die Wald-Witwenblume (Knautia dipsacifolia) oder der Pyrenäen-Reiherschnabel (Erodium manescavii) haben sogar im warmen Oktober eine zweite Blüte bilden können. Einige Pflanzen waren leider nicht ganz so hart im Nehmen und waren wohl samt Wurzeln vollständig vertrocknet. Meine Pflanzenauswahl berücksichtigt zwar den jeweiligen Standort auf dem Balkon, aber ich habe nicht nur hochspezialisierte Trockenheitskünstler im vollsonnigen Südseiten-Kasten, sondern auch Pflanzen, die sonnige bis halbschattige Standorte mögen. Umso mehr haben mich diese Pflanzenwesen beeindruckt, die sich mit regelmäßiger Wasserversorgung wieder ins Leben zurückgekämpft haben.
Im Folgenden nun ein kleiner Bilderrundgang: Der Wilde Meter acht Wochen nach der selbst verschuldeten Dürre-Katastrophe.
Kleiner Exkurs zum Karstweißling
Ich hatte den Falter erst für einen Kleinen Kohlweißling (Pieris rapae) gehalten, aber meine App ObsIdentify meinte „Karstweißling“. Daraufhin hab ich ihn von Experten nachbestimmen lassen und die waren einer Meinung mit der App. Der Karstweißling ist ein Zuwanderer. Er lebte ursprünglich recht standorttreu nur südlich der Alpen und hat sich dann auf einmal über die Schweiz nach Deutschland ausgebreitet. Erstnachweis in Deutschland war 2008 und 2012 dann in der Münchner Umgebung am Starnberger See. Inzwischen ist die Art in Deutschland großräumig vertreten. Annette von Pfab-Scholley, die den Arbeitskreis Schmetterlinge beim LBV-München leitet, hat zu dem Karstweißling in München schon geforscht und eine Veröffentlichung dazu herausgegeben. Ich hab den Artikel unter diesem Beitrag verlinkt.
Exkurs: „Boden will bedeckt sein!“
Reinhard Witt beschreibt das Phänomen der tausend Keimlinge aus Sicht der Pflanzen: „Das Wildblumendach konnte sich nur regenerieren, weil ihr Samenpotential auch Stressperioden abfedert.“ Bei einer Veranstaltung zur Bodenfruchtbarkeit auf dem Naturland-Bauernhof Chiemgaukorn südlich von München erklärte der Bio-Landwirt, dass er mit einer komplexen Fruchtfolge den Boden seiner Felder ganzjährig mit Pflanzen bedeckt, „wie es seiner Natur entspricht“. So könnten auch die Bodenorganismen optimal arbeiten, Humus wird aufgebaut. „Boden will bedeckt sein“, sagte er. Dieser Satz fällt mir immer wieder ein, wenn ich sehe, wie selbst im kleinsten Balkonkasten Kleinstfreiflächen an offener Erde zum Keimen genutzt werden. Das Bestreben und Potenzial der Pflanzen sich über Samen auszubreiten geht offensichtlich mit idealen Bedingungen für Bodenorganismen Hand in Hand.
Rundgang auf dem kleineren unversehrten Balkon
Zum Schluss möchte ich noch ein paar Impressionen von den späten Blüten auf dem kleineren Bürobalkon zeigen. Obwohl der Herbst ja bisher sehr warm war, habe ich wenige Besucher beobachten können. Vielleicht schaut noch die ein oder andere dicke Hummelkönigin später vorbei.
Quellen und weiterführende Literatur:
Reinhard Witt/ Katrin Kaltofen: Klimawandel – Fluch oder Chance? Erfahrungen & Lösungen aus naturgärtnerischer Praxis. Verlag Naturgarten, 1. Auflage, 2020
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Reinhard Witt: Das Wildpflanzen-Topfbuch, 5. Auflage, 2023
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von Scholley-Pfab, A. & F. Pfab (2017): Beobachtungen zur Einwanderung und Ökologie von Pieris mannii (MAYER, 1851) im Großraum München (Lepidoptera: Pieridae) – Nachrichtenblatt der Bayerischen Entomologen – 66: 58 – 65 | Als PDF herunterladen
Naturland-Hof Chiemgaukorn: Unsere Philosophie
Da sehen wir mal wieder, dass unsere heimischen Wildblumen wahre Überlebenskünstler sind und jedes Jahr schöner, fülliger auf jeden angebauten Wildenmetern werden. Und sich den Standort anpassen.
Da dürfen “ unwissende Zeitgenossen“ die heimischen Wildblumen gerne auch mal als “ Unkraut “ betiteln…🤣
Liebe Grüße Dietmar
Toll – ich übe mich ja auch darin, mehr Zutrauen zum Garten zu haben – kein Trinkwasser rein ist schon seit Jahren Maxime, aber auch – im Garten aktueller als auf dem Balkon – die Ausbreitungsfähoigkeiten mancher Pflanzen betreffend…. da bin ich doch immer noch oft sehr (zu?) unentspannt, wenn die nächste jahrelang ganz kooperative Wildpflanze meint, nun aber die Welt- oder zumindest Beetherrschaft übernehmen zu wollen.
„Ommmm“ ist immer ein gutes Gartenmotto, scheint mir und hast Du erneut bewiesen!
Oh – ich war’s, die Fjonka!
Ein sehr interessanter Bericht. Ich bin auch immer wieder erstaunt, wie sich die Pflanzen erholen. Besonders ein Rückschnitt ist ein wahrer „Booster“…. Ich habe heuer einige Sträucher radikal zurückgeschnitten und freue mich sehr, wie gut sie alle austreiben. Wie gut schlafende Augen auf Rückschnitt reagieren, wundert mich immer wieder.
Boden will bedeckt sein, das stelle ich auch immer fest. Sogar in unseren reinen Sandbeeten wuchert es wie verrückt.
Das Klimawandelbuch von Witt interessiert mich sehr. Kommt auf meine Bücherliste! Danke für den Tipp und liebe Grüße aus Niederösterreich! Karin
Das sind ja wirklich gute Nachrichten! Wow, 80% konnten sich regenerieren, das ist viel. Gut, daß du das Experiment gewagt hast und wenn man sieht, wieviel Grünes jetzt wieder bei dir steht, ist das echt beeindruckend. Als du beschrieben hast, daß du alles zurückgeschnitten hast, dachte ich noch, daß das klappen könnte. Manchmal wundert man sich, genauso wie nach einem strengen Winter, was wieder austreibt, obwohl es tot aussieht. Wenn ich an die Wiese neben dem Haus denke, die nach dem letzten Hitzesommer ziemlich verdorrt war und wo das Pflanzenverfügbare Wasser in den oberen Bodenschichten bei Null war, kam nach den ersten wenigen Regentropfen ganz schnell das Leben zurück, wie Flockenblumen zum Beispiel. Und dein Blutweiderich hat sich auch erholt? Das erstaunt mich allerdings, so als „Wasserpflanze“. Das so viele deiner Pflanzen überlebt haben, liegt vielleicht auch zusätzlich an deiner guten Substratmischung?! Liebe Grüße vom Hannover-Balkon
PS: den Karstweißling hätte ich auch für einen Kohlweißling gehalten. Das ist ja interessant! Ich las mal, daß Schmetterlinge sehr temperaturempfindlich sind und sich z.B. in höhere, kühlere Lagen zurückziehen oder weiterwandern in nördlichere Gegenden, die kühler sind. Leider kann ich den Artikel nicht wiederfinden. Weißt du etwas dazu?
da sieht man mal wieder die Kraft der Natur, einfach wunderbar. Danke für deine interessanten Posts !!