Wildbienen Wilde Tiere Wildpflanzen

Gastkommentar: „Misstraue dem Ort, an dem kein Unkraut wächst!“

Direkt vor unserer Nase findet ein gewaltiges Artensterben statt. Auf deutschen Äckern werden Insekten, Vögel und viele andere Wildtiere in einem nie gekannten Ausmaß ausgelöscht. Schuld ist die industrielle Aufrüstung unserer Landwirtschaft. Ein Gastbeitrag von Ursula Hudson, Vorsitzende von Slow Food Deutschland.

Misstraue dem Ort, an dem kein Unkraut wächst. Dies ist eine alte Gärtnerweisheit. Sie stammt aus einer Zeit, in der das eingehegte Stückchen Land überwiegend der Selbstversorgung mit Obst, Gemüse und Schnittblumen diente. Ich habe sie sinngemäß erstmals bei Wilhelm Raabe gelesen, dem Urvater des deutschen Umweltromans.

Man wusste damals zu unterscheiden. Zufällig Herbeigewehtes wie Giersch, Löwenzahn oder Gundermann (Soldatenpetersilie) galt als wohlschmeckende und gesunde Verlängerung des Speisezettels. Wildblumen wie Kamille, Ringelblume oder Wiesenschaumkraut fanden Eingang in die Hausapotheke. Die Betonung des Wörtchens „Unkraut“ lag auf der zweiten Silbe. Man verstand aber nicht nur das unmittelbar Nützliche. Die beobachtende Erfahrung zeigte: Wo kein Unkraut wuchs, summte keine Biene, krabbelte kein Käfer und sang kein Vogel. Ein solcher Ort ist eine Wüste, in der die Natur verstummt. Raabe beschrieb dies anschaulich in seiner Erzählung „Pfisters Mühle“.

Beispiellose Ausräumung der Landschaften

Wir postmodernen Nachfahren haben dieses Wissen von der vielfältigen Nützlichkeit des Unkrauts verlernt. Oder aber, es ist uns herzlich egal. Anders kann ich mir nicht erklären, warum wir als Gesellschaft tatenlos einer beispiellosen Ausräumung unserer Landschaften beiwohnen. Ist uns nicht klar, dass die Hochleistungslandwirtschaft unserer Tage dem sogenannten Unkraut – Betonung auf der ersten Silbe – den Krieg erklärt hat? Dass ganze Landstriche durch Gift und Gülle versengt und in monoindustrielles Ödland verwandelt werden? Fällt es niemandem auf, dass kaum ein Vogel singt, wenn man durch diese aseptischen Grünzonen spaziert, in denen kein Blümchen wächst?

Alle heilige Zeit werden die Folgen am Beispiel des Aussterbens irgendeines putzigen Tierchens oder einer hübschen Pflanze zum Thema. Dieser Tage ist es die Honigbiene, die bedroht ist. Imker berichten von kollabierenden Völkern, dem zunehmendem Parasitenbefall und klagen über den dramatischen Rückgang der Blütentracht in den ausgeräumten Landschaften. Doch die Biene hat einen Überlebensvorteil. Sie ist nützlich. Ihre Völker produzieren Honig und sind eifrige Bestäuber. Daher wurde Apis Mellifera, so ihr botanischer Name, vom Menschen domestiziert. Heute ist sie ein Nutztier wie das Hausschwein oder Rind. Ihre ursprüngliche Wildform ist in Deutschland bereits ausgestorben. Kommt einmal ein Schwarm der heutigen Apis aus, so findet er in unseren heutigen Wäldern kaum geeignete Nistplätze und die Varroamilbe lässt ihn den nächsten Winter nicht überleben.

Unbekannte Schwestern der Honigbiene

So steht die Honigbiene unter dem Schutz des Menschen. Er beschwefelt und bedampft sie gegen Parasiten, er baut Beuten an Stelle der fehlenden Baumhöhlen in den Nutzwäldern. Diese Fürsorge gilt leider nicht für die vielen Schwestern der Apis. In Deutschland sind ungefähr 560 Wildbienenarten heimisch, darunter auch die Hummel. Anders als die Honigbienen leben die meisten Wildbienen nicht in größeren sozialen Einheiten, sondern als Einzelgänger. Sie werden deswegen auch als Solitär- oder Einsiedlerbienen bezeichnet. Ihr Pech: Sie produzieren keinen oder nur wenig Honig. Daher wissen wohl nur die wenigsten Menschen von ihrer Existenz. Dabei sind sie hocheffiziente Bestäuber. Die Hummel – von allen Wildbienenarten noch am besten erforscht – erzielt beispielsweise größere Bestäubungsleistungen pro Individuum als die Honigbiene. Studien zeigen zudem, dass Obst- und Gemüsesorten, die von Hummeln bestäubt werden, besser schmecken und größer werden.

Viele der Apis-Schwestern sind bedroht, 30 bis 35 Arten gelten bereits als ausgestorben. Der Grund: Es wächst kein Unkraut mehr. Über viele Millionen Jahre haben sich die Wildbienen in Koevolution mit den bei uns vorkommenden Wildblumen entwickelt. Manche sind auf eine einzige Art spezialisiert. Blüht die nicht mehr, fehlt auch die Biene. Der Niedergang des Unkrauts bedroht also nicht nur unsere domestizierte Honigbiene, bei ihren wilden Verwandten hat ebenfalls ein Sterben eingesetzt. Genaue Zahlen über das Ausmaß fehlen. Man kann aber einen weiter gefassten Indikator zur Veranschaulichung heranziehen: Die gesamte Biomasse von Insekten in landwirtschaftlich genutzten Räumen. Messungen aus Freilandfallen zeichnen hier ein niederschmetterndes Bild. Seit dem Jahr 1936 ist die Insektenmasse in der vergleichenden Langzeitbetrachtung um 98 Prozent zurückgegangen. Ja, Sie haben richtig gelesen: Die Gattung der Insekten ist auf heutigen Argrarflächen nahezu vollständig ausgerottet.

Blühstreifen gegen Bürgerzorn

Die Dramatik ist zumindest in Fachkreisen seit langem bekannt. Dennoch wird die Industrialisierung der Landwirtschaft in Deutschland immer hemmungsloser betrieben. Lässt sich diese Entwicklung mit ein paar Blühstreifen umkehren? Manche Saatguthersteller empfehlen dies den Bauern als Mittel gegen Bürgerzorn. Dann nämlich, wenn ein weiteres Maisfeld zur Gasgewinnung bestellt wird. Die Blumenmischungen solcher Blühstreifen sind oft einseitig auf die Honigbiene ausgerichtet. Dies soll auch die Imker ruhig stellen. Immerhin, besser als nichts. Doch selbst ein biologisch vorbildlich angelegter Randstreifen ist nur ein Restlebensraum. Die Daten legen nahe: Weder die heutigen Brach- und Naturschutzflächen, noch der Anteil der Biolandwirtschaft reichen aus, um das Artensterben auf dem Land zu beenden. Unkraut vergeht eben doch.

Was also tun? Die gute Nachricht: Alle nötigen Gegenmaßnahmen sind seit langem bekannt und erforscht. Wir können den Artenschwund auf dem Land beenden, wenn wir völlig aus der konventionellen Landwirtschaft aussteigen. Beispielsweise ist bekannt, dass wichtige Feldfrüchte wie Weizen 20 bis 30 Wildkräuter pro Quadratmeter gut vertragen. Wir können angesichts der hohen Erträge auch in der Biolandwirtschaft die Nutzung von mindestens sieben bis zehn Prozent der Fläche aufgeben und damit die Schutzfläche verdreißigfachen. Wir können die Vergüllung aufgrund der völlig überdimensionierten Fleischproduktion gesetzlich begrenzen oder zumindest besteuern.

Brexit als Chance für den Systemwechsel

Deutschland hat sich mit völkerrechtlich zum Schutz der Biodiversität verpflichtet. Nehmen wir die Politik beim Wort. Am 24. September sind Bundestagswahlen. Auch Sie entscheiden! Rufen Sie Ihre(n) Abgeordnete(n) an, machen Sie Druck, damit Deutschland eine Umstellung der Agrarförderung auf verbindliche Umweltziele in der EU durchsetzt. Es schadet auch nicht, wenn Sie daran erinnern, dass der anstehende Brexit hierzu die günstigste Gelegenheit seit langem ist. Nach dem EU-Austritt Großbritanniens müssen ab 2020 die Agrarsubventionen gewaltig gekürzt werden. Eine ideale Möglichkeit, die Systemumstellung auch politisch durchzusetzen. Es wäre doch schön, wenn dann auch in Deutschland endlich wieder Unkraut wächst!

Anmerkung der Redaktion „Wilder Meter“: Ich engagiere mich seit vielen Jahren in der Slow-Food-Bewegung und betreue seit 2010 auch die Online-Redaktion von Slow Food Deutschland e. V. Dieser Kommentar von Ursula Hudson ist am 30. Mai 2017 im aktuellen Slow Food Magazin 3/2017 erschienen. Da er thematisch sehr gut zum Blog passt, wurde mir der Text freundlicherweise von der Autorin und dem Oekom-Verlag zur Veröffentlichung auf dem Blog „Wilder Meter“ überlassen.

Über Slow Food: Slow Food setzt sich ein für eine verantwortliche, umwelt- und ressourcenschondende Landwirtschaft und Fischerei, eine artgerechte Tierhaltung, das traditionelle Lebensmittelhandwerk sowie die Bewahrung der biokulturellen Vielfalt und regionalen Geschmacksvielfalt.

Mehr Informationen zum Slow Food Magazin und dem Engagement von Slow Food bei Bienen und Bestäubern finden Sie hier:

Slow Food Magazin 3/2017: Bienen und Honig

Slow Thema „Bienen und Bestäuber“: Aktionen, Positionen, Informationen

Das Titelbild ist auf einer Exkursion zu den ökologischen Ausgleichsflächen der Gemeinde Haar im Osten von München entstanden: Bläuling auf Kathäusernelke. Mehr Informationen zu den ökologischen Aktivitäten in Haar erfahren sie hier: Interview mit Umweltrefent Michael von Ferrari

2 Kommentare zu “Gastkommentar: „Misstraue dem Ort, an dem kein Unkraut wächst!“

  1. Das Hauptproblem dürfte heutzutage sein, dass orts- und branchenfremde Investoren mit entsprechenden finanziellen Möglichkeiten die Ländereien im großen Stil aufkaufen (hauptsächlich in Osteuropa, aber auch vermehrt in Westeuropa) und diese dann wie ein riesiges Industriegebiet verwalten (Stichwort: Land Grabbing). Ackerland ist mittlerweile ein begehrtes Spekulationsobjekt, es geht um Profit und Rendite – dadurch sind die Preise für Ländereien in vielen Gegenden mittlerweile so hoch, dass sie für normalsterbliche „Bauern“ nicht mehr zu bezahlen sind.

    Neben den dadurch zunehmenden Monokulturen und nahezu vollautomatisierten Tiermastbetrieben zerstören (durch eine fehlgeleitete Energiepoltik) Windräder, Photovoltaikfelder und Biogasanlagen mehr und mehr das ursprüngliche Landschaftsbild – Umwelt und Böden werden durch die Spekulanten und Investoren in aller Regel rücksichtslos ausgebeutet, es muss quasi das letzte aus jeder Ackerkrume rausgeholt werden.

    Ich befürchte, dass, selbst wenn der Wille zu einer Umkehr in Richtung extensiver Landwirtschaft mit Fruchtfolgen und Brachflächen sowie dem völligen Verzicht auf Pestizide wieder kommen sollte, es leider zu spät ist.

    Die EU fördert ein solches Vorgehen der Investoren übrigens mit großzügigen Subventionen …

  2. Margret

    Liebe Katharina,
    wir leben nach dem Motto: Giersch im Garten? Nicht ärgern, sondern aufessen! Junge Gierschblätter zubereitet wie Spinat – eine echte Köstlichkeit!
    Viele Grüße Margret

Schreibe eine Antwort zu MargretAntwort abbrechen