Spinnen fliegen, zumindest junge und leichte Tiere. Sie treiben mit einem sogenannten Fadenfloß durch die Lüfte. Wenn es ihnen an einem Ort nicht mehr gefällt, stellen sie sich auf die „Zehenspitzen“ gegen den Wind, richten den Hinterleib schräg aufwärts und lassen einen Faden austreten. Dieser wird vom Luftzug erfasst und hebt die Spinne vom Untergrund ab. Dann werden sie verweht. Das Ziel bestimmt der Wind. Meistens fliegen sie nur kurze Strecken, aber unter günstigen Windbedingungen auch mehrere tausend Meter hoch. Manche der „Aeronauten“ landen so auch wahrscheinlich auf dem Wilden Meter.
Das habe ich nun von Experten im Forum der Arachnologischen Gesellschaft erfahren. Eigentlich habe ich nur ganz naiv die Frage gestellt, wie viele Spinnenarten wohl auf meinem Balkon schätzungsweise leben könnten. Dokumentiert sind aktuell dreizehn. Im Gegensatz zu Hummeln oder Wespen sind die Spinnen oft sehr klein, versteckt, gut getarnt und Begegnungen mit mir, noch dazu mit dem Fotoapparat in der Hand, sind eher selten und zufällig. Tobias Bauer hat mir eine sehr informative und ausführliche Antwort zum Lebensraum Stadt und Balkon für Spinnen gegeben, die ich hier veröffentlichen darf.
Gestatten Sie vorher noch eine kurze Zwischenbemerkung: Ist das nicht eine richtig romantische Seite der Spinnen, der Flug per Fadenfloß? Stellen Sie sich vor, Sie lernen jetzt auf dem Münchner Oktoberfest jemanden kennen. Der oder diejenige sagt nicht, „komm, wir nehmen ein Taxi“, sondern „komm mit mir auf mein Fadenfloß“ und Sie nehmen sich an der Hand, heben ab und schweben über der Stadt davon …
Tobias, kann man einschätzen, wie viele verschiedene Arten ein Fachmann auf zwei Quadratmetern „verwildertem“ Balkon finden könnte, wenn er suchen würde?
Tobias Bauer: Das ist schwierig abzuschätzen. Ein Habitat A, zum Beispiel ein Balkon, kann auch als ökologische Senke wirken. Das heißt, man findet Arten, die aber eigentlich aus einem Quellhabitat B (zum Beispiel einer angrenzenden Wiese) stammen und in Habitat A nicht überleben bzw. stabile Populationen aufbauen können, durch Abwanderungen usw., aber immer wieder mal dort gefunden werden.
Auf dem Balkon ist das Hauptproblem, vergleichbar wie bei Dachbegrünungen, die Überwinterung. Das Substrat friert wesentlich stärker durch als am Boden und damit auch eventuell überwinternde Spinnen, da Streuauflage und Volumen fehlen. Dazu kommen Störungen durch Einsaaten im Frühjahr.
Ein Balkon ist für die meisten Spinnen daher kein Lebensraumersatz, weil sie ihren Lebenszyklus, der meist auf ein Habitat beschränkt ist, nicht vollenden können. Einige kleine ganzjährige Linyphiiden werden sich sicherlich in den Sommermonaten dort fortpflanzen können, dazu kommen typische Hausspinnen (Speispinnen/Scytodes, Finsterspinnen/Amaurobius), die aber nicht auf eine Bepflanzung angewiesen sind.
Ganz anders ist das mit Bestäubern, die Pflanzen vor allem als Pollen- und Nektarquelle nutzen. Eine naturnahe Bepflanzung auf dem Balkon ist für viele Wildbienen in der Stadt eine wichtige Nahrungsquelle und trägt nachweislich zur Erhöhung der Bestäubervielfalt bei. Simao et al. (2018) haben sehr schön experimentell in den USA nachgewiesen, dass selbst sehr kleine Pflanzungen – wie sie eben Bürger leisten können – von für Wildbienen wertvolle Pflanzen die Artendichte sehr gut erhöhen können (Simao et al.).
Daher gilt für Bestäuber „jeder Quadratmeter zählt“, während für Spinnen in der Stadt andere Lebensräume und Faktoren wichtig sind, zum Beispiel die Pflegefrequenz öffentlicher Grünflächen (Buchholz et al.).
Unter dem Balkon haben wir auf einer Wiese Artenanreicherung mit Wildpflanzen als Bewohnerprojekt gemacht. Die wird nur noch zweimal gemäht. Aber, so wie ich dich verstehe, würde eine Spinne nicht vom Balkon im Winter runter auf die Wiese klettern, sondern einfach auf dem Balkon erfrieren, korrekt?
Tobias Bauer: Kommt drauf an, in welcher Höhe der Balkon ist :-). Wenn sie kein geeignetes Überwinterungshabitat findet, kann ich mir gut vorstellen, dass eine Krabbenspinne auf die Wiese aus dem ersten Stock nach unten abwandert. Aus dem 5. Stock würde ihr das aber sicherlich schwerfallen. Vielleicht fliegt sie noch mit dem Fadenfloß davon, aber das kommt auch auf das Stadium an. Eventuell bleibt sie auch dort und erfriert. Das ist aber ganz schwer zu sagen und sicherlich artabhängig. Die Frage ist natürlich, was sonst mit ihr auf ihrer Wanderung in der Stadt passiert wäre.
Gesamtökologisch findet daher sicherlich mehr Einbindung durch den Balkon statt, als wenn die Spinne auf der nächsten Straße überfahren wird, das ist sicher. Eine gezielte Einwanderung will ich aber nicht unterstellen. Die bleiben halt da, wo sie Futter finden, also auch auf einem Balkon, wenn sie dort hingelangen. Und sicher, die werden auch gefressen, gerade an so exponierten Stellen. Dazu gibt es sogar eine Untersuchung, die zeigt, dass an Vogelfutterstellen mehr Käfer gefressen werden, indirekt natürlich auch, weil solche Flächen oft schön übersichtlich gestaltet sind (
et al.). Lockt man also Vögel auf den Balkon mit Körnerfutter, mampfen die einem sicherlich auch die Arthropoden weg.Man muss sich das ökologisch so vorstellen, dass, wenn die Grünflächen in der Stadt jetzt nur aus Balkonen bestehen würden, die Spinnen im Winter ein ziemliches Problem hätten, mal ganz abgesehen von sonstigen Mangel an Lebensraum. Sind aber Quell- und Überwinterungsflächen da, stellen solche Balkone auch Übergangshabitate, zum Beispiel für Tiere, die durch das Fadenfloßfliegen hingelangen, dar. Nur im Winter brauchen sie halt fast unbedingt eine Alternative. Natürlich hängt das auch vom Winter ab. Bei mir in Karlsruhe gibt es Winter, da frieren meine Kästen natürlich nicht durch.
Bei Foelix habe ich gelesen, dass überwinternde Spinnen oft erstaunlich kälteresistent sind und es rätselhaft ist, warum Spinnen mit realtiv geringer Kälteresistenz selbst sehr strenge Winter überleben können und dass etwa 85 Prozent unserer heimischen Spinnenfauna vor allem in der Bodenzone überwintert. Das sind lt. diesem Buch 0 – 15 Zentimeter.
Ich habe Blumenkästen mit 15 Zentimeter Tiefe, aber auch größere Töpfe von 20 Zentimeter bis 60 Zentimeter Tiefe. Aber natürlich ohne ausgeprägte „Streuschicht“. Aber ich habe einen Holzrost auf dem Estrich, unter dem sich Erde und Laub angesammelt hat, das ich dort lasse und ich habe eine Ecke, wo ich das Laub des Wilden Weins den ganzen Winter liegen lasse. Könnte es nicht sein, dass dann so eine Spinne einen tieferen Topf oder den Laubhaufen zum Überwintern aufsucht und überlebt? Könnte man spinnenfreundliche Maßnahmen ergreifen, um das Überleben der Spinnen im Winter wahrscheinlicher zu machen, ähnlich den Nisthilfen für Insekten? Oder sind die Ansprüche zu unterschiedlich und ein Balkon dann doch einfach zu naturfern?
Tobias Bauer: Es stimmt, die meisten Spinnen sind erstaunlich kälteresistent. Allerdings zeigten z. B. Mestre et al. 2018, dass Spinnendichten- und die -diversität in Agrarlandschaften vor allem in Gehölzen und Krautstreifen nach dem Winter deutlich höher als im Acker selbst sind. Bestimmte Arten bevorzugten dabei auch bestimmte Überwinterungshabitate. Diese gilt es daher nachzuahmen. Ein Krautstreifen (Randstreifen) auf dem Balkon ist schwierig nachzuahmen (da gibt es ja natürlich auch oft Moosauflage, abgestorbene Pflanzen usw.). Allerdings kann eine Kiste mit Laub oder ein Laubhaufen durchaus nützlich sein, denke ich. Ich habe selbst so eine Kiste auf dem Balkon (als Kompost für nichtstinkende Küchenabfälle), darin lebt im Sommer einiges (Kurzflügelkäfer usw.). Ich schaue mal diesen Winter, was ich so drin finde. Daran habe ich garnicht gedacht.
Ich kann mir gut vorstellen, dass darin auch eine Spinne überwintern kann, wenn die Kiste groß und tief genug ist (eine normale Obstkiste mit 40 Zentimetern Tiefe müsste aber reichen). Ein Haufen hat eventuell einen ähnlichen Effekt, ist aber natürlich schwieriger auf dem Balkon zu behalten (bei mir würde es den einfach wegwehen) und weniger gut zu schichten. Eventuell überwintern Spinnen auch in Blumentöpfen. Aber wie gesagt, die Auswinterungschance halte ich darin für deutlich größer. Man müsste einen arachnologisch arbeitenden Physiologen fragen, was da das unmittelbare Problem für Spinnen im Winter bei Frost darstellt. Ich kann mir gut vorstellen, dass es an den schneller wechselnden Temperaturen im Tagesverlauf liegt, da fast kein Puffer vorhanden ist, ähnlich wie ja bei Pflanzen, die frei stehen, im Vergleich mit solchen 100 Meter weiter im Wald.
Man müsste das mal ausprobieren und dann differenzieren, was man darin findet. Wenn sich im Frühjahr für Häuser untypische Arten in so einer Kiste finden, z. B. Krabbenspinnen [hatte ich zur Bestimmung im Forum eingereicht, Anm. d. Red.], haben die darin sehr wahrscheinlich auch erfolgreich überwintert.
Bildergalerie: Spinnentiere auf dem Wilden Meter
Auf den folgenden Bildern ist eine Auswahl von Spinnen zu sehen, die sich auf dem Wilden Meter zum Fotoshooting zur Verfügung gestellt haben und noch nicht in einem anderen Blogbeitrag mit Bild gewürdigt wurden. Manche habe ich in Aktion erwischt, andere mussten mit dem Schnappi an der Flucht gehindert werden und wurden auf der Tischdecke des Balkontisches im Schnappi abgelichtet.
Die Fotos stammen aus unterschiedlichen Jahren und die Größe einer Spinne auf dem Bild kann nicht in Relation gesetzt werden zu einer Spinne auf einem anderen Bild. Ich habe versucht, das jeweilig schärfste Foto und davon einen halbwegs tauglichen Ausschnitt auszuwählen.
Die Spinnen wurden anhand der Fotos im Forum Europäischer Spinnentiere (Links siehe unten) oder im Facebook-Forum „Wer bin ich?“ bestimmt. Oft geht es nur bis zur Gattung und auch da stand manchmal ein „vermutlich“ dabei. Die Spinne im Titelbild ganz oben ist eine Streckerspinne (Tetragnatha obtusa).
Und zum Schluss hier noch die perfekte Einsteigerspinne für Spinnenphobiker:
Quellen und weiterführende Informationen:
Arachnologische Gesellschaft: „Die Arachnologische Gesellschaft (AraGes) ist eine Vereinigung zur Förderung des wissenschaftlichen Austauschs zu Taxonomie, Vorkommen und Verbreitung, Biologie und Ökologie der Spinnentiere Mitteleuropas. Ihre Mitglieder forschen an Spinnentieren, publizieren Erkenntisse für die akademische Gemeinschaft und vermitteln Wissen über vielfältige Wege an Kollegen, interessierte Laien, Organisationen und Behörden.“ (arages.de)
Sehr empfehlenswerte Lektüre auf der Seite der Arachnologische Gesellschaft:
Spinnentiere für Einsteiger
(Wie erkennt man eine Spinne? Sind Spinnen für Menschen gefährlich? Angst vor Spinnen. Usw.)
Bestimmungsfragen im Forum europäischer Spinnentiere der Arachnologischen Gesellschaft einreichen
Arachniden-Forum-Wiki: Artenporträts, Bestimmungshilfen
Spinne des Jahres 2018: Fettspinne Steatoda bipunctata
Spinne des Jahres 2005: Zebraspringspinne
Foelix, Rainer: Biologie der Spinnen. Stuttgart: Thieme, 1992
YouTube „Leben am seidenen Faden: Bemerkungen über die Spinne – Horst Stern 1a/6.avi“, Dokumentarfilm von Horst Stern aus dem Jahr 1975. Wegen Urheberrechten ist das nur ein Schnipsel, das ein YouTube-User hochgeladen hat. Es gibt aber einen guten Eindruck wieder.
Stichwort „Balloning“ auf wiki.arages.de: Verbreitung per Fadenfloß im Luftplankton
Tolle Balkonvielfalt und schön, dass auch die Spinnentiere eine Würdigung erhalten ?
Die grüne Kräuselspinne, Nigma Walckenaeri, ist auf jeden Fall richtig bestimmt.
Ein sehr interessanter Beitrag und tolle Fotos! Auf meinem Balkon gab es diesen Sommer mehr Spinnen als üblich. Hitze und Trockenheit scheint denen nichts auszumachen. Nachdem ich Ihren Beitrag gelesen habe, fiel mir auf, dass ich fast nichts über diese Tiere weiß.
Vielen Dank für den interessanten Ausflug ins Spinnenreich! Wenn man kein Fan ist, kennt man sich bei Spinnen ja noch weniger aus, als bei allem anderen. Ich wußte auch nicht, daß die überwintern. Nie drüber nachgedacht. Das du sogar Krabbenspinnen auf dem Balkon hast! Ich habe die noch nie in Natura gesehen. Hier wuseln sehr viele Spinnentiere rum, auch die niedliche Wolfsspinne oder Zebraspringspinne, aber auch viele andere, die ich nicht kenne. Die Fettspinne kommt mir allerdings bekannt vor. Echt spannend. Aber überwintern die in der Laubschicht oder in der Erde? Hier hätte ich sonst vermutet, daß einige Spinnen in den warmen Mauerritzen Quartier beziehen.
Das ist aber nicht die Veränderliche Krabbenspinne (Misumena vatia), die du wahrscheinlich meinst, sondern Xysticus spec. Ich war auch erstaunt, als mir im Spinnenforum die Spinne als „Krabbenspinne“ bestimmt wurde. Die gehören alle zur Familie der Thomisidae, hab ich jetzt nachgelesen. Die heißen so, weil sie weil sie ihre Beine ähnlich wie Krabben halten. Die Veränderliche Krabbenspinne habe ich in diesem Sommer zum ersten Mal gesehen, aber gleich zweimal. Einmal auf einer Blüte im Garten meiner Mutter und einmal im Wald in der Oberpfalz, sogar mit Beute. Da hatte sie einen Schmetterling ergattert. Ich finde, auf einer Blüte zu sitzen und warten, bis jemand zufällig vorbei kommt und sich auch noch fangen lässt, eine mühsame Art, sein Essen zu fangen 🙂
Aber eine entspannte 😉 Danke für die Info. Ich hätte jetzt gedacht, Krabbe wäre Krabbe 😉 Freunde von mir haben Bienen und bei ihnen im Garten fängt wohl eine Krabbenspinne (?) die Bienen weg. Zum Glück haben sie ja ein paar mehr…
Danke für diesen überaus lehrreichen und sehr interessanten Beitrag! Was ich doch alles nicht wusste!