„Die war gestern schon mal da“, sagte Redaktionsmitglied Bombus urbanus und zeigte auf eine kleine Heuschrecke auf der Lehne unseres Wohnzimmersofas. Ich eilte, den Schnappi zu holen, um ihn oder sie wieder aus der Wohnung zu transportieren. Dann holte ich schnell noch den Fotoapparat.
Das Tierchen kroch aus dem Schnappi langsam auf die Plastiktischdecke des Balkontisches und hatte es glücklicherweise überhaupt nicht eilig. Die kleine Heuschrecke ließ sich Zeit, putzte hin und wieder die Fühler, krabbelte auf der Blümchen-Tischdecke rum, als ob sie die seltsame „Wiese“ studieren wollte. Sie machte nur irgendwann einen Hüpfer hinüber auf den Balkonstuhl, schien vergnügt bis belustigt und neugierig, wem sie da gerade begegnete. Ich fand die kleine Heuschrecke herzallerliebst und mir schien, sie schaute mich, mit genausoviel Sympathie an wie ich sie, während sie mein Balkonmobiliar besichtigte.
Die Schönheit der Natur
Wieder einmal fielen mir Zeilen des englischen Öko-Aktivisten und Hummelforschers Dave Goulson ein: „Selbst mit shakespearescher Sprachmacht könnte ich das Wunder und die Schönheit der Natur niemals wirklich wiedergeben. In den letzten Jahrzehnten sind etliche großartige Natur-Dokumentarfilme entstanden, in denen wir alle möglichen exotischen Geschöpfe bestaunen können (…). Für mich sind zehn Minuten mit einer Laubheuschrecke genauso viel wert wie zehn Stunden vor einem Bildschirm, auf dem Paradiesvögel in einem abgelegenen tropischen Regenwald ihren exotischen Paarungstanz vollführen.“
Ich konnte auf jeden Fall ein paar Fotos vom Sofahüpfer machen, um ihn zu bestimmen. Ich griff zum Kosmos Heuschreckenführer von Heiko Bellmann (2006). Aufgrund der Fotos war ich zunächst völlig überfordert. Ohje, irgendwie sehen die sich alle furchtbar ähnlich! Gut, dachte ich mir, du bist zwar Geisteswissenschaftlerin, aber jetzt versuchst du es mal als interessierter Laie mit dem Analyseinstrument der Biologen, dem Bestimmungsschlüssel. Es gibt in dem Buch eine Identifizierungsanleitung nach Merkmalen des Körperbaus und eine weitere nach Merkmalen des Gesangs. Gesangsaufnahmen hatte ich nicht, aber laut Bellmann kann man mit dem Bestimmungsschlüssel nach Merkmalen des Körperbaus unter Zuhilfenahme einer Lupe und angesichts eines lebenden Tieres zur sicheren Bestimmung gelangen.
Bestimmungsschlüssel nach Merkmalen des Körperbaus
Die Makro-Fotos ersetzten mir praktisch die Lupe bei meinem autodidaktischen Praktikum „Bestimmung einheimischer Heuschrecken“. Punkt 1: Sind die Vorderbeine zu Grabbeinen entwickelt oder sind die Vorderbeine normal, dann weiter zu Punkt 2. Ganz klar: Vorderbeine normal. Punkt 2: Sind die Fühler so lang wie oder länger als der Körper (Ensifera), dann weiter zu 3 oder sind die Fühler kürzer als der Körper, dann weiter zu 32 (Caelifera). Klarer Fall: kürzer als der Körper. Also weiter zu Punkt 32. Nach etwa 45 Minuten genauen Vergleichens der unterschiedlich scharfen Fokuspunkte meiner etwa 50 Makro-Fotos, die ich nach bestem Wissen und Gewissen beantwortete, landete ich bei Punkt 70. Sind die Halsschild-Seitenkiele winkelig geknickt oder vorn parallel, nach hinten divergierend. Was zum Teufel sind Halsschild-Seitenkiele? Die erklärenden Zeichungen waren auch für die Wissenden und nicht für blutige Heuschrecken-Bestimmungsanfänger wie mich gedacht. Ich klappte den Kosmos-Heuschreckenführer entnervt zu, haderte kurz mit der vergeudeten Lebenszeit und tat das, was ich in letzter Zeit schon oft gemacht hatte, ich stellte die Fotos mit der Bitte um Bestimmung der abgebildeten Art in ein Experten-Forum ein, das Heuschreckenforum www.forum.orthoptera.ch
Die berühmt-berüchtigte Chorthippus-Gruppe
Kurze Zeit später schrieb mir Florin: „Es ist ein Weibchen aus der berühmt-berüchtigten Chorthippus-Gruppe. Die Weibchen aus dieser Gruppe lassen sich fast nicht sicher unterscheiden. Wichtig wären die Männchen und diese lassen sich anhand der Gesänge am besten unterscheiden. In deinem Fall würde ich auf den Nachtigall-Grashüpfer (Chorthippus biguttulus) tippen. Aber sicher ist diese Bestimmung nicht.“
Mit dieser Information hüpfte ich zurück zu Punkt 70 und den Halsschild-Seitenkielen. Wenn Florin richtig liegt, dann sind die Halsschild-Seitenkiele tatsächlich winkelig geknickt, die Tympanalöffnung schmal nierenförmig und die Form und Größe der Flügel in mm: L 15, B 3, L/B 5. Hier würde die Bestimmung dann eindeutig beim Nachtigall-Grashüpfer enden.
Die Art ist laut Wikipedia in ganz Deutschland häufig. Aber nur eine Grashüpferin hat wohl ein Faible für italienische Sofas.
Nachtrag: Rudolf Nützel, Geschäftsführer der BUND Kreisgruppe München, hat heute Nachmittag noch per E-Mail seine Einschätzung gegeben. Er meint, es handelt sich sehr wahrscheinlich um den Gemeinen Grashüpfer (Chorthippus parallelus), die häufigste Heuschrecke in München. Insofern bleibt es bei Chorthippus spec.
Früherer Heuschrecken-Besuch
Diese Langfühler-Heuschrecke (siehe unten) besuchte uns nachts im Juli 2015. Sie saß auf dem Rollladen unserer Balkontür und ich hab sie dann mit Blitz fotgrafiert, um den Besuch zu dokumentieren. Ich habe sie immer für ein Großes Heupferd gehalten, aber nachdem ich nun dem Kosmos-Heuschreckenführer mehrmals durchgeblättert habe, bin ich unsicher:
Quellen:
Der Kosmos Heuschreckenführer von Heiko Bellmann (2006)
Dave Goulson: Die seltensten Bienen der Welt (2017)
Heuschreckenforum
ttps://www.forum.orthoptera.ch
Heuschrecken in München
Infoseite der Münchner Stadtverwaltung mit Broschüre als PDF
Der berühmt-berüchtigte Sofahüpfer ist auf keinen Fall der Gewöhnliche Grashüpfer (Chorthippus parallelus). Der Gewöhnliche Grashüpfer hat ganz andere Flügel und dessen Halsschildseitenkiele sind nicht geknickt, sondern sind parallel. Eben „parallelus“. Außerdem sieht man doch gleich, dass er nicht gewöhnlich ist. 🙂
Es ist aber ein Chorthippus, wie die kleine Ausbeulung am Flügelrand beweist, und zwar sicherlich eine von den drei sehr ähnlichen Arten aus der Chorthippus-biguttulus-Gruppe, wahrscheinlich der Nachtigall-Grashüpfer selbst (Chorthippus biguttulus). Das Nachtigall-Weibchen hat auch oft, wie auf dem Bild, einen weißen Streifen am Flügelrand. Dieses Arten-Trio ist tatsächlich am einfachsten am Gesang der Männchen zu unterscheiden, wobei man keine überzogenen Erwartungen an die Schönheit des Gesangs der „Nachtigall“ haben sollte. Es klingt ungefähr wie eine Kinderrassel, deren Geräusch lauter wird und plötzlich abbricht. Für mich gehört es aber zum wunderschönen Sound des Sommers.
Die Langfühlerschrecke müsste die Eichenschrecke sein (Meconema thalassinum). Die sieht man, obwohl wohl eher häufig, im Freiland nur selten, weil sie oben auf Bäumen und Sträuchern lebt, aber öfter mal im Haus, weil sie durch Licht angelockt wird. Wenn sie Pech hat, findet sie nicht mehr raus. Wenn sie Glück hat, wird sie von Eichenschreckenfreunden gerettet.
Ich habe heute Ihre herrliche Seite entdeckt und mit viel Freude drin gestöbert. Mir gefällt diese ausgesprochen ansteckende Entdeckerfreude sehr!
Lieber Georg, vielen herzlichen Dank für dieses Gusto-Stückerl! Ich freue mich sehr, dass Dir mein Blog so gut gefällt. Heute hatte ich schon wieder aufregenden Besuch, eine Eintagsfliege. Ich hatte bis heute noch nie eine aus der Nähe gesehen und fand, das Insekt sieht sehr gefährlich und exotisch aus, mit auffälligen Flügeln und zwei Schwänzen. Ein Kreuzung aus Falter, Ohrzwicker und Silberfisch. Eine Art Insekten-Wolpertinger. Und dann? Eintagsfliege. Haha. Wieder was entdeckt und gelernt. Herzliche Grüße, Katharina
Ohne in Sachen Bestimmung über nennenswerten Ehrgeiz oder irgendwelche Kenntnisse zu verfügen, staune ich doch vor allem über die O-Beine und die langen Fühler. Formvollendete Kreaturen, reich beschenkt mit Fähigkeiten, von denen die selbsternannten Kronen der Schöpfung keine Ahnung haben.
Das Schöne am Bestimmen ist, dass man am Ende das lesen und erfahren kann, was die Wissenschaft über die Tiere oder auch Pflanzen schon herausgefunden hat. Nach dem Motto, man sieht nur, was man weiß, erkennt man dann das Verhalten bei den Tieren auf dem Balkon oftmals wieder und versteht dann besser, was da gerade passiert. Wir haben zum Beispiel gerade ganz viele Gallische Feldwespen (Polistes dominula) im Meisenhaus. Da werde ich noch berichten, was da gerade passiert. Ein Insektenexperte auf Facebook hat mir bestätigt, dass es P. dominula ist. Anhand der Information kann ich nun erforschen, was die Tiere da gerade machen. Der Experte meinte, dass auch Männchen dabei sind. Er meinte, vielleicht löst sich ein Nest auf, das wir bisher gar nicht bemerkt haben. Mal sehen.
Hahaha! Winkelig geknickt. 🙂 Das ist Poesie. Liebe Grüsse von Regula
Ich wäre auch bei „Langfühler-Heuschrecke“, einem Weibchen mit Legeröhre. Bei mir sitzt manchmal so eines auf der Terrasse und bohrt diese Legeröhre stundenlang geduldig in die sandgefüllten Fugen des Terrassenpflasters.