Wer seinen Balkon auf einheimische Wildpflanzen umstellt, wird nahezu umgehend mit dem Besuch von Wildbienen belohnt. Die Beobachtung auf Augenhöhe ermöglicht spannende Einblicke in den gemeinsamen Naturkosmos von Bienen, Blumen und anderen Insekten. Ein neues Buch des Wildbienenexperten Paul Westrich, erschienen im Verlag Eugen Ulmer, hilft, das Wissen fachgerecht zu vertiefen. Es wendet sich an Einsteiger, ist aber auch für Fortgeschrittene mehr als lesenswert.
Es gibt eine Quelle des Wildbienenwissens in Deutschland, die unerschöpflich scheint. Auf sie greifen nicht nur Fachleute zurück, sie speist auch so manchen Blog, populärwissenschaftlichen Artikel oder Fernsehbeitrag. Den Lesern des Wilden Meters ist sie ebenfalls bekannt. Ihr Name: Paul Westrich. Seit über 50 Jahren erforscht der Entomologe die gut 600 Wildbienenarten, die es in Deutschland gibt. Er hat dazu den Klassiker „Die Wildbienen Baden-Württembergs“ (leider vergriffen) und später das 800 Seiten starke Grundlagenwerk „Die Wildbienen Deutschlands“ (Eugen Ulmer Verlag) verfasst. Diese beiden Referenzpublikationen allein machen ihn wohl zu dem eminenten Wildbienenspezialisten Deutschlands. Erfreulicherweise scheut sich Westrich nicht, sein Wissen zu popularisieren. Im Internet betreibt er das informativ und reich bebilderte Wildbienen-Portal „Wildbienen-Info“, auf unzähligen Vorträgen führt er anhand seiner Fotos und selbstgedrehten Filme in die faszinierende Welt der Wildbienen ein.
Nutztier und Wildbiene
Meine eigene Entdeckungsreise in diese Welt begann auf genau einem solchen Vortrag. Zum ersten Mal erfuhr ich dort von den höchst differenzierten Lebensweisen hunderter Bienenarten, die ich bis dahin summarisch als „Fluginsekten“ wahrgenommen hatte, wenn ich ihnen begegnete. Heureka! Seitdem weiß ich auch, dass unter den vielen Bienenarten, die den Wilden Meter besuchen, nur eine einzige so etwas wie eine politische Lobby in der Öffentlichkeit hat. Es ist das Nutztier in der Familie: die Honigbiene. Sie ist ausgerechnet diejenige Art, die einzig in Deutschland nicht wildlebend vorkommt. Weil sie aber reichlich Honig produziert, kennt sie jedes Kind. Zwar schmerzt ihr Stich höllisch wie bei keiner anderen Schwesternart. Doch das tut ihrer Popularität keinen Abbruch. Als eines der wenigen Insekten hat die Honigbiene es bis zur Vermenschlichung gebracht: sie ist die fleißige Maja, der dumme Willi und prangt im Wappen von Napoleon.
Die nahezu ausschließliche Bekanntheit der Honigbiene bei uns Menschen mag Paul Westrich dazu veranlasst haben, sein neuestes Werk unter dem Titel „Wildbienen – Die anderen Bienen“ (Eugen Ulmer Verlag) zu publizieren. Er schreibt darin: „Das Studium der Natur war für mich immer untrennbar mit der Notwendigkeit verknüpft, sich für ihren Schutz einzusetzen. Meine Hoffnung ist: Wer an diesen Organismen durch die Beobachtungen Freude gewinnt, wird sich auch für deren Erhaltung einsetzen und verstehen, warum auch außerhalb der Dörfer und Städte Schutzmaßnahmen, z. B. in Form von Naturschutzgebieten, notwendig sind.“ Das Buch ist die vollständig überarbeitete Neuausgabe seiner ursprünglich im Verlag Dr. Friedrich Pfeil erschienenen Einführung in dieses Thema.
Gestochen scharfe Fotos
Es ist kein Naturführer im klassischen Sinn. So verzichtet Westrich auf einen Bestimmungsschlüssel im üblichen Sinne. Stattdessen porträtiert er auf 208 Seiten informativ und gut lesbar eine Auswahl von 120 repräsentativ gewählten Wildbienenarten. Beantwortet werden alle Fragen zu Vorkommen, Nist- und Sozialverhalten sowie Blütenvorlieben. Auch die für die Koevolution von Bestäuberin und Pflanze entscheidenden Eigenschaften werden für die bienenfreundlichen Blütenpflanzen detailliert dargestellt. Für jeden (Balkon-) Gärtner ein Aha-Erlebnis. Westrich beschränkt sich auch nicht nur auf die Darstellung der Bienenarten und ihrer Nahrungs-, Schlaf- und Nistpflanzen, sondern führt auch in das erweiterte Umfeld von Parasiten und anderer Insekten ein, die beispielsweise die Nistbehausungen der Wildbienen nutzen.
Über 650 gestochen scharfe Fotos machen das Werk zudem zu einem optischen Erlebnis. Wer selbst schon einmal auf dem Balkon oder im Garten fotografiert hat, weiß wieviel Mühe, Akribie und Liebe zum Objekt in diesen Aufnahmen steckt. Letztere ist ansteckend. Der angeregte Leser erfährt daher auch noch, wie man die verschiedenen Bienenarten in ihrem Lebensraum schützen und mit geeigneten (!) Nisthilfen auf dem Balkon und im Garten unterstützen kann. Eine ausführliche und teilweise kommentierte Bibliographie zu weiterführender Literatur runden das Informationsangebot ab. Herstellung und editorische Sorgfalt sind auf dem von Ulmer gewohnten Niveau. Kurz zusammengefasst: Dieses Buch ist eine Bereicherung für jeden Naturinteressierten. Wer in das Thema Wildbienen einsteigen möchte, sollte mit „Wildbienen – Die anderen Bienen“ beginnen!
Titel: Wildbienen, die anderen Bienen
Autor: Paul Westrich
Erschienen: 26. September 2024
Eugen Ulmer Verlag
208 Seiten, 22,6 cm × 22,6 cm, Hardcover
Preis: 30 EUR
ISBN 978-3-8186-2086-8
Zum Buch beim Eugen Ulmer Verlag
Mehr Informationen: www.wildbienen.info
Text: Bombus urbanus
Titelfoto (ganz oben): Der Rezensent bei der Lektüre des neuen Wildbienen-Buchs von Paul Westrich
Bombus urbanus, sehr schön 😉 Buch wie Internetseite lese bzw. besuche ich immer wieder gerne. Beim Buch hatte ich anfangs Probleme mit der ungewohnten Struktur; die erschloss sich mir später, als ich schon mehr mit dem Thema vertraut war. Da machte es für mich Sinn. Wirklich ein tolles Buch! Liebe Grüße aus dem Norden! Almuth